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KONRAD MICHEL, Prof. Dr. med.

Fachinformationen

Suizidalität

Suizid ist keine überlegte Handlung

Viele von uns kennen Momente in unserem Leben, in denen wir an die Möglichkeit denken, dem Leben, in das wir geboren wurden ohne gefragt zu werden, ein selbstgewähltes Ende zu setzen. Das ist ziemlich normal. Tatsächlich haben wir Menschen ja – zumindest theoretisch – diese Freiheit. Die Situation, in der sich der akut suizidale Mensch befindet, hat aber herzlich wenig mit solchen Überlegungen zu tun.

Seelischer Schmerz

Der akute suizidale Zustand entsteht in Lebenssituationen, die uns in unseren Grundfesten erschüttern, die eine Bedrohung unseres gewohnten Selbsterlebens darstellen. Es sind Situationen, in denen wir etwas erleben, was die meisten Menschen als „seelischen Schmerz“ (engl. mental pain) beschreiben. Seelischer Schmerz ist ähnlich einem schlimmen körperlichen Schmerz und kann Folge sein von seelischen Verletzungen, Enttäuschungen, Trennungen von wichtigen Personen, aber auch von Gefühlen des Versagens und des Verlustes von wichtigen Zielen in unserem Leben. Gefährlich wird es, wenn wir in solchen Momenten uns selber nicht mehr akzeptieren können, wenn Gedanken auftauchen, dass wir tatsächlich für nichts taugen, ja wenn plötzlich Gefühle des Selbsthasses auftauchen. Nicht alle Menschen kennen Zustände von seelischem Schmerz, aber diejenigen, die solche erlebt haben, wissen wie schlimm sie sind. Sie lösen in unserem Körper einen Alarmzustand aus, den wir oft kaum mehr unter Kontrolle bringen können. Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, berichten, dass sie sich wie in einem Nebel oder in einem Trancezustand fühlten, nicht mehr klar denken konnten und vor allem sich und ihren Körper „nicht mehr spürten“. Psychiater sprechen von „dissoziativen Zuständen“, das sind psychische Ausnahmezustände, in denen das harmonische Erleben von Wahrnehmung, Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen vorübergehend gestört ist. In einem solchen Zustand sind wir nicht mehr in der Lage, klar zu denken und überlegt zu handeln. Unser gesamtes Erleben ist aus dem Ruder gelaufen.

Das emotionale Hirn und das Vernunfthirn

Mit der modernen Hirnforschung verstehen wir heute besser, was in der akuten suizidalen Krise im menschlichen Gehirn abläuft. Unser Verhalten hängt zu einem wesentlichen Teil vom Zusammenspiel zweier wichtiger Hirnregionen ab. Auf der einen Seite das „emotionale Hirn“, welches im Bereich des Zwischenhirns liegt, auf der andern Seite das „Vernunfthirn“, das im Stirnhirn lokalisiert ist. Im emotionalen Hirn befindet sich unsere Alarmzentrale - die Amygdala -, die rasch und ohne unser bewusstes Überlegen in bedrohlichen Situationen Alarm schlägt und einen Adrenalinschub auslöst. Dabei wird das Vernunfthirn (frontaler bzw. praefrontaler Kortex), das Zentrum, wo wir planen und nach Lösungen für schwierige Situationen suchen, praktisch ausgeschaltet. Wir sind in diesem Ausnahmezustand, für eine gewisse Zeit, nicht mehr in der Lage, „überlegt“ und  unserem „Ich“ entsprechend zu handeln. Dies lässt sich mit den modernen bildgebenden Verfahren, die wir zum Studium der Hirnaktivität zur Verfügung haben, eindrücklich zeigen: Wenn Menschen, die suizidale Krisen durchgemacht  haben, sich im MRI (Magnetresonanzverfahren) für einen Moment wieder an diesen Moment erinnern, sieht man, dass die Aktivität im Stirnhirn deutlich abnimmt, während sie in der Amygdala zunimmt.

Emotionale Krisen können unser Gehirn überfordern

Erfahrungen, die seelischen Schmerz auslösen, bewirken also einen akuten Stresszustand, der das Stirnhirn lähmt und überlegtes Handeln verunmöglicht. Unser Hirn reagiert als ob es in einer existentiell bedrohlichen Situation wäre (der drohende Zusammenbruch des Ich-Erlebens ist ja tatsächlich eine existentielle Bedrohung – nicht körperlicher sondern psychischer Natur) und sieht keinen andern Ausweg als diesem Zustand und damit dem – zumindest momentan – ungeliebten „Ich“ ein Ende zu setzen. Langfristige Lebenspläne und alternative Lösungen sind im akut suizidalen Zustand nicht mehr greifbar. Unser Gehirn handelt wie wenn es von einem „Auto-Piloten“ gesteuert würde. Überleben wir die suizidale Krise, ist der Normalzustand meist rasch wieder hergestellt, und lebensorientierte Ziele sind plötzlich wieder im Vordergrund. Eine durchgemachte suizidale Krise hinterlässt aber in jedem Fall Spuren in unserem Gehirn. In einer nächsten emotionalen Krise – und diese kann nach Tagen oder Jahren eintreten – greift das Hirn sofort wieder zum Notfallplan („Suizid ist die Lösung“), womit die Schwelle für eine tödlich endende Suizidhandlung gesenkt ist.

Gewisse Faktoren erhöhen das Suizidrisiko

Frühe traumatische Erfahrungen werden in der Amygdala praktisch für immer gespeichert, und führen oft zu einem labilen Alarmsystem. Es ist somit verständlich, dass Menschen, die in ihrer Vorgeschichte negative Erfahrungen wie sexuellen Missbrauch und andern traumatische Situationen haben, mehr als andere suizidgefährdet sind – weil das emotionale Hirn zu überschiessenden und unkontrollierbaren Reaktionen neigt. Dies ist übrigens besonders in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter eine Gefahr; das Stirnhirn reift nämlich erst in der Adoleszenz ganz aus, und kann deshalb emotionale Impulse in dieser Zeit oft nur ungenügend steuern.

Depressionen erhöhen die Gefahr

Ein ganz grosses Risiko stellen viele psychische Störungen dar, allen voran die Depression. Die Depression ist nämlich ein Zustand, in dem das emotionale Hirn überaktiv ist, während das Stirnhirn, also der Teil des Gehirns, den wir brauchen, um überlegt zu handeln, in seiner Funktion stark reduziert ist. Depressive Menschen haben also viel mehr Mühe, das emotionale Hirn zu steuern; dazu kommt, dass sie sich selber durch die depressiven Funktionsstörungen  als sehr negativ erleben und die Schuld für die Veränderungen fälschlicherweise auf sich nehmen – die Voraussetzungen für das Erleben von seelischem Schmerz sind in der Depression also besonders ausgeprägt. Wenn eine Depression vorliegt, sind die suizidalen Impulse langanhaltend und besonders gefährlich. Depressive Menschen ziehen sich zurück, schämen sich und haben grosse Mühe, sich jemandem anzuvertrauen. Sie behalten Suizidgedanken also oft für sich. Man sagt, dass 50 – 70% der Menschen, die durch Suizid sterben, an einer Depression leiden. Darum ist es derart wichtig, Depressionen zu behandeln, bevor es zu spät ist. Depressionen können jeden Menschen treffen, aber sie können heute erfolgreich, meist ambulant, behandelt werden. Sie sind Zustände von veränderter Hirnfunktion, die mit dem Willen allein nicht überwunden werden können, und die jeden Menschen treffen können.

Mit Suizidgedanken ist nicht zu spassen

Wie und ob wir eine emotionale Krise meistern, hängt nun von vielen Faktoren ab. Viele Menschen können seelischen Schmerz aushalten. Vielleicht verlieren sie den Glauben daran nicht, dass auch scheinbar unerträglicher seelischer Schmerz vorbeigeht, vielleicht haben sie das Glück, dass ihr Gehirn auch unter extremem Stress nicht zu überschiessenden Reaktionen neigt. Oft hilft ein Gespräch mit einem vertrauten Menschen, wieder Boden unter den Füssen zu bekommen. Wenn wir aber den Schmerz nicht aushalten können, oder denken, dass es nur noch schlimmer werde, tauchen fast automatisch Suizidgedanken auf: „Suizid könnte die Lösung sein, dem unerträglichen Schmerz und Selbsthass ein Ende zu setzen“. Viele Menschen greifen in solchen Momenten zu Medikamenten, um diesen Zustand zu beenden. Sie erwarten dabei oder nehmen es zumindest in Kauf, dass die Sache tödlich ausgehen könnte, was zum Glück mit den heutigen Medikamenten meistens nicht der Fall ist. Es gibt natürlich Suizidmethoden, die wenig Chancen zum Überleben lassen; besonders gefährlich ist es, wenn ein Mensch sich in der Vergangenheit schon damit befasst hat, was für ihn allenfalls eine sichere Methode sein könnte, d.h. wenn ein fertig durchgedachter Notfallplan vorliegt.

Fazit

Es ist extrem wichtig zu verstehen, dass es zum Suizid kommen kann, wenn unser Gehirn in der Steuerung emotionaler Impulse überfordert ist und der akute Stresszustand unser überlegtes Handeln lähmt. Suizid ist also eine Handlung in einem neurobiologischen Ausnahmezustand. Zustände von seelischem Schmerz in ausserordentlichen Lebenssituationen können lebensgefährlich sein. Solche Krisen sind ein klarer Grund für eine Notfallkonsultation bei einer medizinischen Fachperson, sei es beim Hausarzt, beim Notfallarzt, auf der Notfallstation des nächsten Krankenhauses, beim psychiatrischen Notfalldienst, etc. Es kann nicht sein, dass wir wegen eines Wespenstichs den Arzt aufsuchen, in einer psychischen Krise aber nichts unternehmen! Wenn wir Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, fragen, was sie im Falle einer nächsten suizidalen Krise machen würden, sagen alle, sie würden sich beim nächsten Mal mit Sicherheit an eine der oben erwähnten Stellen wenden – sie hätten vorher nicht gewusst, dass es für solche Situationen Hilfe gäbe.

rev. 17.8.12 KM/AGM

 

Sendung "Kontexte", DRS2, 9. Sept. 2014, "Die Biologie des Selbstmordes"

 

Was braucht der suizidale Patient? CME 2017